NACHRICHT | 04.10.2023
Krieg / Frieden - Zentralasien
Bernhard Clasen berichtet aus der Region über die Tage der Rückeroberung von Bergkarabach durch Aserbaidschan
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Bernhard Clasen
«Eine Moschee im christlichen Armenien und eine armenische Kirche im moslemischen Aserbaidschan: Zeugnisse vom Leben von Minderheiten in Zeiten, in denen das möglich war. Inzwischen wurden aus Aserbaidschan fast alle Armenier*innen vertrieben, aus Armenien fast alle Aserbaidschaner*innen.»
Foto: Bernhard Clasen (Collage: RLS)
Am 19. September 2023 griff das aserbaidschanische Militär die selbst ernannte armenische Republik Bergkarabach an, die international nicht anerkannt wird, da sie völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Vorausgegangen war eine monatelange aserbaidschanische Blockade der einzigen Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien. Nur einen Tag nach Beginn des Angriffs der überlegenen aserbaidschanischen Truppen erfolgte die Kapitulation Bergkarabachs. Seitdem hat eine Fluchtbewegung von Armenier*innen eingesetzt; inzwischen sollen bereits 100.000 der insgesamt rund 120.000 Bewohner*innen der Region in Armenien angekommen sein. Der Journalist Bernhard Clasen, der sich auch mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Region aufhielt, berichtet über die Tage vor und nach der Rückeroberung des jahrzehntelang umstrittenen Territoriums durch Aserbaidschan.
Eriwan, 18. September
Einträchtig sitzt die armenische Familie Mirsojan beim Mittagessen im Zentrum der Hauptstadt Eriwan, unweit der weltberühmten «Blauen Moschee». Irgendwo läuft leise ein Fernseher, es ist das Erste Russische Fernsehen. Tabbouleh-Salat mit Tomaten, Gurken und Petersilien, daneben gedünstete Kartoffeln und ein Fleischeintopf stehen auf dem Tisch; als Nachspeise gibt es eine frische Wassermelone.
Dieser Tag ist ein besonderer Tag, Besuch hat sich angekündigt. Freudestrahlend begrüßt Ira ihre 80-jährige Mutter Gayana und ihren 25-jährigen Sohn Artur. Gayana lebt in Moskau, sie ist am Tag zuvor mit einer Aeroflot-Maschine angekommen. Und Sohn Artur hat es vor wenigen Monaten noch rechtzeitig geschafft, aus Stepanakert/Chankendi in Bergkarabach rauszukommen. Nur einer fehlt: Iras Bruder Robert. Er lebt in Kiew. Und weil er die ukrainische Staatsbürgerschaft hat, darf er die Ukraine nicht verlassen. Robert will das auch gar nicht, erklärt Ira. Ihr Bruder sei ein echter ukrainischer Patriot. Immer wieder erzählt sie am Tisch von ihm und seinem letzten Besuch in Eriwan. Doch der war vor dem Krieg in der Ukraine.
Alle haben sie eines gemeinsam: Sie kennen die moderne Form des Drohnenkrieges aus eigener Erfahrung. «Wie hässlicher Regen sind die türkischen Drohnen auf uns niedergeprasselt», beklagt sich Ira, die den 40-Tage-Krieg im November 2020 in Karabach erlebt hat. Sie lebt erst seit einem Jahr in Eriwan. Wie ein Trauma hat sich dieser Krieg im Gedächtnis jedes Armeniers und jeder Armenierin, insbesondere jener aus Bergkarabach, eingebrannt.
Rechtzeitig hatte man Artur zum Studieren nach Moskau geschickt. Ira wollte nicht, dass er im Krieg umkommt. «Er ist mein einziger Sohn», sagt sie. Auch Gayana berichtet von Drohnen, die inzwischen regelmäßig Moskau erreichen. «Robert und seine Frau haben vor kurzem angerufen und gefragt, ob wir nicht ihre Kinder aufnehmen können – bis der Krieg mit seinen Drohnenangriffen auf Kiew vorbei ist», sagt Ira. Roberts Kinder seien nach mehreren Luftangriffen ganz verstört. Für die Familie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man Roberts Bitte erfüllt, «solange es in Eriwan ruhig ist». Alle am Tisch haben große Sympathie für die Ukraine. «Spätestens, wenn Biden nicht mehr Präsident der USA ist, ist auch dieser Krieg zu Ende», sagt Tante Gayana. Sie hat es sicherlich tröstend gemeint, aber diese Argumentation kennt man eigentlich nur aus dem russischen Fernsehen, das immer noch im Hintergrund läuft.
Baku, 24. September
Eine aserbaidschanische Familie beim Mittagsessen am Stadtrand von Baku. Man freut sich über den Gast aus dem Ausland und hat entsprechend aufgetischt. Es gibt eingelegte Zwiebeln, Kräuter, grüne Zwiebeln, Makrele, Kartoffeln, Radieschen, Gurken, einen im Kaspischen Meer gefischten Stör in Granatapfelsauce. Wer will, kann eine Zitrone auf dem Stör auspressen. Zu trinken gibt es Säfte, Mineralwasser und jede Menge Alkoholika. Bereitwillig übersetzt Gastgeber Vugar seinen Kindern und seiner Frau, die nicht in Baku aufgewachsen ist, das Gespräch aus dem Russischen ins Aserbaidschanische. Schnell kommt man auf die «antiterroristische Operation» in Bergkarabach zu sprechen.
«Nur einen Tag haben wir gekämpft, und fast 200 tote aserbaidschanische Soldaten», schimpft Vugar. «Das kann doch nicht sein. Israel wäre so etwas nicht passiert.» Die Familie schweigt einen Augenblick im Gedenken an die getöteten Soldaten. Dass auch Armenier*innen umgekommen sind, interessiert nicht.
«Überhaupt», setzt der Familienvater, der im gehobenen Dienst arbeitet, das Gespräch fort: «Die Iraner können wir nicht ertragen. Wir sperren zwar nicht die Grenzen für sie, aber wir tun alles, um ihren Aufenthalt zu erschweren.» Diese Fanatiker und Israel-Hasser wolle man nicht im Land sehen.
Eldar Sejnalow, langjähriger Menschenrechtsaktivist und Direktor des Aserbaidschanischen Menschenrechtszentrums, kennt diese Kritik an der aserbaidschanischen Militäroperation gegen Bergkarabach. «Nein, diese Logik will und kann ich nicht nachvollziehen», sagt er. «Weniger Verluste hätte Aserbaidschan nur gehabt, wenn es Karabach bombardiert hätte. Waffen und Munition dafür hätte Aserbaidschan gehabt. Aber was soll denn so eine Grausamkeit im dritten Jahrtausend!»
Der Exodus
Nach der «antiterroristischen Operation», wie man in Aserbaidschan sagt, bzw. dem «Genozid», wie man in Armenien sagt, begann der Exodus. Die Armenier*innen von Bergkarabach haben kein Vertrauen in die Machthaber Aserbaidschans, wollen sich nicht «re-integrieren» lassen. Über hunderttausend Karabach-Armenier*innen sind inzwischen in Armenien eingetroffen.
Gegam Bagdasarjan, Präsident des Presseclubs von Stepanakert/Chankendi, beschreibt auf seiner Facebook-Seite die Situation nach dem 19. September. «In der Nähe der Stadt Martuni fordern die Aserbaidschaner die Menschen über Lautsprecher auf, die Stadt zu verlassen, andernfalls würden sie alle töten. Soweit ich weiß, wurde Martakert drei Tage Zeit gegeben. Aus den Außenbezirken von Stepanakert (aus Richtung Krkzhan) wird auf die Stadt geschossen.» Stepanakert/Chankendi ist derzeit noch nicht von aserbaidschanischen Truppen besetzt.
«Ohne internationale Präsenz ist eine Evakuierung unmöglich, da es eine Reihe von Hindernissen gibt. Das wichtigste davon ist die Haltung der Russen», so Bagdasarjan. «Die Russen wollen, dass eine bestimmte Anzahl von Menschen bleibt, um ihre kriminelle Präsenz hier zu rechtfertigen. Das ist in der Tat eine Geiselnahme».
Opposition in Armenien: Kann Paschinjan sich halten?
Armeniens Ministerpräsident, Nikol Paschinjan, tat im Mai diesen Jahres etwas, was keiner seiner Vorgänger je gewagt hatte: Er erkannte Bergkarabach als Teil Aserbaidschans an. Damit zog er sich den Ärger der weitgehend russlandfreundlichen Opposition zu.
Unmittelbar nach Aserbaidschans «antiterroristischer Operation» wurde der prorussische Blogger Mika Badaljan zu einem der Wortführer der Anti-Paschinjan-Demonstrationen. Vielen Aktivist*innen der armenischen Zivilgesellschaft ist Badaljan kein Unbekannter. Er hatte immer wieder Demonstrationen, die sich in Eriwan gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine richteten, verbal angegriffen. Und als Badaljan Anfang September wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen worden war, übermittelte das russische Außenministerium dem armenischen Botschafter seine Besorgnis über die Festnahme.
Unterstützt wurden die Anti-Paschinjan-Demonstrationen auch von den russischen Fernsehjournalist*innen Margarita Simonjan und Wladimir Solowjew. Beobachter*innen sehen hinter den Protesten auch Sersch Sargsjan und Robert Kotscharjan, beide Vorgänger von Paschinjan.
Koordiniert werden die Anti-Paschinjan-Demonstrationen von Vertreter*innen des «Nationalen Komitees», dem unter anderen Vazgen Manukyan, der erste Ministerpräsident der Republik Armenien, sowie Ishkhan Saghatelyan, Mitglied der nationalistischen Partei Dashnaktsutyun und ebenfalls Abgeordneter für Kotscharjans Partei «Armenia», angehören.
Wie hältst Du es mit Russland?
Die Frage, an der sich aktuell in Armenien die Geister scheiden, ist das Verhältnis zu Russland. Russland ist in Armenien überall präsent. Russische FSB-Einheiten wachen an der türkisch-armenischen Grenze, FSB-Leute sind auch am Flughafen präsent. «Mit Mühe habe ich einige armenische Begrüßungsworte gelernt», berichtet die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina, «und musste an der Grenze feststellen, dass mein Gegenüber kein Armenisch versteht, weil er auch aus Russland stammt».
Dass zwischen Ministerpräsident Paschinjan und Russlands Präsident Wladimir Putin die Chemie nicht stimmt, ist längst kein Geheimnis mehr. Russland ist über Armeniens neue Westorientierung erzürnt.
Auch David macht der zunehmende Einfluss der Türkei in der Region Angst. Dem soeben pensionierten Offizier missfällt, dass nun auch Türkisch auf den armenischen Lehrplänen stehe und Armenien sich gleichzeitig immer mehr von Russland abwende. In der Folge liefere Russland nicht einmal die Waffen, für die Armenien schon bezahlt habe. «Wenn Russland uns bestrafen will, macht es dies über Aserbaidschan.» Armenien provoziere Russland, wenn ausgerechnet die Frau des armenischen Ministerpräsidenten jetzt die Ukraine besuche, dort humanitäre Hilfe übergeben habe. «Hat sie denn schon vergessen, dass die Ukraine Aserbaidschan mit Waffen, darunter auch Phosphorbomben, im Krieg gegen uns beliefert hatte?», fragt er sich.
Doch viele fühlen sich von Russland im Stich gelassen. Russland konnte oder wollte die von Putin initiierte Waffenstillstandserklärung vom 9. und 10. November 2020 nicht umsetzen, sah tatenlos zu, als Aserbaidschan den Latschin-Korridor in Beschlag nahm. Und Russland ließ Aserbaidschan bei seiner «antiterroristischen Operation» gewähren.
Der Menschenrechtler Artur Sakunts, Leiter des Vanadzor-Büros der Helsinki Citizens' Assembly, fordert vor diesem Hintergrund auf seiner Facebook-Seite den Austritt Armeniens aus der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), einen blockfreien Status Armeniens, den Abzug der russischen Truppen, eine strategische Zusammenarbeit mit den USA und Frankreich zum Aufbau eines neuen Sicherheitssystems und eine Kündigung der Verträge zur strategischen Zusammenarbeit mit Russland.
Auch der Politologe Areg Kotschinjan findet sich in diesen Forderungen weitgehend wieder. Er geht sogar noch einen Schritt weiter. Wenn man keine Integration mit Russland mehr wolle, so Kotschinjan auf dem Portal civic.am, komme man um eine Einigung mit Aserbaidschan und der Türkei nicht herum.
Der Appetit kommt beim Essen
In Aserbaidschan wiederum ist viel von einem armenisch-aserbaidschanischen Friedensvertrag die Rede, der noch in diesem Jahr unterzeichnet werden solle. Für den 5. Oktober war eine Begegnung des aserbaidschanischen Präsidenten, Ilham Aliew, mit dem armenischem Ministerpräsidenten Paschinjan auf der dritten Tagung der Europäischen Politischen Gemeinschaft im spanischen Granada geplant, die jedoch von Aserbaidschan kurzfristig abgesagt wurde.
Begeisterung löst diese Perspektive eines Friedensvertrages in Armenien nicht aus. «Der Appetit kommt beim Essen», kommentiert der armenische Politologe Alexander Iskanderjan. International anerkannte Grenzen, das zeigten die Beispiele Syriens und der Ukraine, würden keineswegs garantieren, dass man nicht angegriffen werde. Iskanderjan befürchtet, dass Aserbaidschan mehr wolle als nur Bergkarabach.
Streit um «Korridor» Sangesur vorprogrammiert
Aserbaidschan will einen «Korridor» zwischen der Enklave Nachitschewan und dem aserbaidschanischen Mutterland. Über diesen Korridor sollen Straßen und Züge Nachitschewan (und damit auch die Türkei) mit dem aserbaidschanischen Mutterland verbinden. Kontrolliert werden soll dieser Korridor von Aserbaidschan. Zwar war in der Waffenstillstandserklärung vom November 2020 Aserbaidschan tatsächlich eine von russischen Truppen gesicherte Landverbindung zugesagt worden. Von einem «Korridor» war indes nicht die Rede. Und «Korridor» bedeutet im Kontext des Südkaukasus eine extraterritoriale Landverbindung.
Auch der Iran dürfte von einem «Korridor» direkt an seiner Grenze wenig begeistert sein. Zum einen ist die mit dem Iran verfeindete Türkei NATO-Land und somit Bündnispartner des Erzfeindes USA. Zum anderen werden aktuell Güter von Nachitschewan ins aserbaidschanische Mutterland über den Iran transportiert. Mit einem Korridor auf armenischem Gebiet würde der Iran eine wichtige Einnahmequelle verlieren.
Fest steht: Weitere Konflikte in der Region sind auch nach dem Ende der Kampfhandlungen vorprogrammiert.
Bernhard Clasen arbeitet als Journalist (u.a. für die taz) und schreibt seit 30 Jahren über die Nachfolgestaaten und -gesellschaften der Sowjetunion.
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