Armenien – Aserbaidschan
VON BERNHARD CLASEN
Krisen und Kriege
Eriwan, 18. September.
Einträchtig sitzt die armenische Familie Mirsojan beim Mittagessen im Zentrum von Jerewan, unweit der weltberühmten „Blauen Moschee“. Irgendwo läuft leise ein Fernseher, es ist das Erste Russische Fernsehen. Tabbouleh-Salat mit Tomaten, Gurken, und Petersilien, daneben gedünstete Kartoffeln neben einem Fleischeintopf stehen auf dem Tisch. Und als Nachspeise gibt es eine frische Wassermelone. Dieser Tag ist ein besonderer Tag. Besuch hat sich angekündigt. Freudestrahlend begrüßt Ira ihre 80-jährige Mutter Gayana und ihren 25-jährigen Sohn Artur. Gayana lebt in Moskau. Sie ist einen Tag zuvor mit einer Aeroflot-Maschine von Moskau gekommen. Und Sohn Artur hat es noch rechtzeitig vor wenigen Monaten geschafft, aus Stepanakert / Chankendi in Karabach rauszukommen. Nur einer fehlt: Iras Bruder Robert. Er lebt in Kiew. Und weil er die ukrainische Staatsbürgerschaft hat, darf er die Ukraine nicht verlassen. Robert will das auch gar nicht, erklärt Ira. Ihr Bruder sei ein echter ukrainischer Patriot. Immer wieder erzählt sie am Tisch von Robert und seinem letzten Besuch in Yerevan. Doch das war vor dem Krieg in der Ukraine.
Alle haben sie eines gemeinsam: Sie kennen die moderne Form des Krieges mit Drohnen aus eigener Erfahrung. „Wie hässlicher Regen sind die türkischen Drohnen auf uns niedergeprasselt“ beklagt sich Ira, die den 40-Tage Krieg im November 2020 in Karabach erlebt hat. Sie lebt erst seit einem Jahr in Jerewan. Wie ein Trauma hat sich dieser Krieg im Gedächtnis jedes Armeniers/jeder Armenierin, insbesondere aber jedeR Karabach-Armenier*in, fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. Und rechtzeitig hatte man Artur nach Moskau zum Studieren geschickt. Ira wollte nicht, dass Artur im Krieg umkommt. „Er ist mein einziger Sohn“. Auch Gayana berichtet von Drohnen, die inzwischen regelmäßig Moskau erreichen. „Robert und seine Frau haben vor kurzem angerufen, gefragt, ob wir nicht ihre Kinder aufnehmen können – bis der Krieg mit seinen Drohnenangriffen auf Kiew vorbei ist“ sagt Ira. Roberts Kinder seien nach mehreren Luftangriffen ganz verstört. Für die Familie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man Roberts Bitte erfüllt. „Solange es in Yerevan ruhig ist.“ Alle am Tisch haben sie große Sympathie mit der Ukraine. „Spätestens, wenn Biden nicht mehr Präsident der USA ist, ist auch dieser Krieg zu Ende“, sagt Tante Gayana. Sie hat es sicherlich tröstend gemeint, aber diese Argumentation kennt man eigentlich nur aus dem russischen Fernsehen, das immer noch im Hintergrund läuft.
Baku, 24. September.
Eine aserbaidschanische Familie beim Mittagsessen am Stadtrand von Baku. Man freut sich über den Gast aus dem Ausland und hat entsprechend aufgetischt. Es gibt eingelegte Zwiebeln, Kräuter, grüne Zwiebeln, Makrele, Kartoffeln, Radieschen, Gurken, einen im Kaspischen Meer gefischten Stör in Granatapfelsauce. Wer will, kann eine Zitrone auf dem Stör auspressen. Zu trinken gibt es Säfte, Mineralwasser und jede Menge Alkoholika. Bereitwillig übersetzt Gastgeber Vugar seinen Kindern und seiner Frau, die nicht in Baku aufgewachsen ist, das Gespräch vom Russischen ins Aserbaidschanische. Schnell kommt man auf die „antiterroristische Operation“ in Bergkarabach zu sprechen.
„Nur einen Tag haben wir gekämpft und fast 200 tote aserbaidschanische Soldaten.“ schimpft Vugar. „Das kann doch nicht sein. Israel wäre so etwas nicht passiert.“ Die Familie schweigt einen Augenblick im Gedenken an die getöteten aserbaidschanischen Soldat*innen. Dass auch Armenier*innen umgekommen sind, interessiert nicht.
Eldar Sejnalow, langjähriger Menschenrechtsaktivist und Direktor des Aserbaidschanischen Menschenrechtszentrums, kennt diese Kritik an der aserbaidschanischen Militäroperation gegen Bergkarabach. „Nein, diese Logik will und kann ich nicht nachvollziehen“ sagt er gegenüber dem FriedensForum. „Weniger Verluste hätte Aserbaidschan nur gehabt, wenn es Karabach bombardiert hätte. Waffen und Munition dafür hätte Aserbaidschan gehabt. Aber was soll denn so eine Grausamkeit im dritten Jahrtausend!“
Exodus
Nach der „antiterroristischen Operation“, wie man in Aserbaidschan sagt, bzw. dem „Genozid“, wie man in Armenien sagt, begann der Exodus. Die Armenier*innen von Berg Karabach haben kein Vertrauen in die Machthaber von Aserbaidschan, wollen sich nicht „reintegrieren“ lassen. Über 50.000 Karabach-Armenier*innen sind inzwischen in Armenien eingetroffen.
Gegam Bagdasarjan, Präsident des Presseclubs von Stepanakert / Chankendi, beschreibt auf seiner Facebook-Seite die Situation nach dem 19. September. „In der Nähe der Stadt Martuni fordern die Aserbaidschaner die Menschen über Lautsprecher auf, die Stadt zu verlassen, andernfalls würden sie alle töten. Soweit ich weiß, wurde Martakert drei Tage Zeit gegeben. Aus den Außenbezirken von Stepanakert (aus Richtung Krkzhan) wird auf die Stadt geschossen.“ Stepanakert / Chankendi ist derzeit noch nicht von aserbaidschanischen Truppen besetzt.
„Ohne internationale Präsenz ist eine Evakuierung unmöglich, da es eine Reihe von Hindernissen gibt. Das Wichtigste davon ist die Haltung der Russen,“ so Bagdasarjan. „Die Russen wollen, dass eine bestimmte Anzahl von Menschen bleibt, um ihre kriminelle Präsenz hier zu rechtfertigen. Das ist in der Tat eine Geiselnahme.“
Opposition in Armenien – kann Paschinjan sich halten?
Armeniens Premier-Minister Nikol Paschinjan hatte im Mai etwas gemacht, was keiner seiner Vorgänger gewagt hatte: Er hatte Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anerkannt. Damit zog er sich den Ärger der weitgehend russlandfreundlichen Opposition zu. Sofort nach Aserbaidschans „antiterroristischer Operation“ wurde der prorussische Blogger Mika Badaljan zu einem der Wortführer der Anti-Paschinjan-Demonstrationen. Vielen Aktivist*innen der armenischen Zivilgesellschaft ist Badaljan kein Unbekannter. Er hatte immer wieder Demonstrationen gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor der russischen Botschaft in Eriwan verbal angegriffen. Und als Badaljan Anfang September wegen illegalem Waffenbesitz festgenommen worden war, hatte das russische Außenministerium dem armenischen Botschafter seine Besorgnis über diese Festnahme übermittelt. Unterstützt wurden die Anti-Paschinjan Demonstrationen auch von den russischen Fernsehjournalist*innen Margarita Simonjan und Wladimir Solowjew. Beobachter*innen sehen hinter den Protesten auch Sersch Sargsjan und Robert Kotscharjan, beide Vorgänger von Paschinjan.
Koordiniert werden die Anti-Paschinjan-Demonstrationen von Vertretern des "Nationalen Komitees". Diesem gehören u.a. Vazgen Manukyan, der erste Premierminister der Republik Armenien sowie Ishkhan Saghatelyan, Mitglied der nationalistischen Partei Dashnaktsutyun - ebenfalls Abgeordneter von Robert Kotscharjans "Armenia" - an.
Wie hältst Du es mit Russland?
Die Frage, an der sich aktuell in Armenien die Geister scheiden, ist das Verhältnis zu Russland. Russland ist in Armenien überall präsent. Russische FSB-Einheiten wachen an der türkisch-armenischen Grenze, russische FSB-Leute sind auch am Flughafen präsent. „Mit Mühe habe ich einige armenische Begrüßungsworte gelernt“ berichtet die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina. „Und musste an der Grenze feststellen, dass mein Gegenüber kein Armenisch versteht, weil er auch aus Russland stammt.“
Dass es zwischen Premier Nikol Paschinjan und Russlands Präsident Wladimir Putin mit der Chemie nicht stimmt, ist kein Geheimnis mehr. Russland ist über Armeniens neue Westorientierung erzürnt.
Auch David macht der zunehmende Einfluß der Türkei in der Region Angst. Dem soeben pensionierten Offizier missfällt, dass nun auch Türkisch auf den armenischen Lehrplänen stünde und dass sich Armenien gleichzeitig immer mehr von Russland abwendet. In der Folge liefere Russland nicht einmal die Waffen, für die Armenien schon bezahlt habe. „Wenn Russland uns bestrafen will, macht es dies über Aserbaidschan.“ Armenien provoziere Russland, wenn ausgerechnet die Frau des armenischen Premierministers jetzt die Ukraine besuche, dort humanitäre Hilfe übergeben hätte. „Hat sie denn schon vergessen, dass die Ukraine Aserbaidschan mit Waffen, darunter auch Phosphorbomben, im Krieg gegen uns beliefert hatte?“ fragt er sich.
Doch viele fühlen sich von Russland im Stich gelassen. Russland konnte oder wollte die von Putin initiierte Waffenstillstandserklärung vom 9. und 10. November 2020 nicht umsetzen, hatte tatenlos zugesehen, als Aserbaidschan den Latschin-Korridor in Beschlag genommen hatte. Und Russland hatte Aserbaidschan bei seiner „antiterroristischen Operation“ gewähren lassen.
Der Leiter des Vanadzor-Büros der Helsinki Citizens' Assembly, der Menschenrechtler Artur Sakunts, fordert vor diesem Hintergrund auf seiner Facebook-Seite den Austritt Armeniens aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) einen blockfreien Status Armeniens, einen Abzug der russischen Truppen, eine strategische Zusammenarbeit mit den USA und Frankreich zum Aufbau eines neuen Sicherheitssystems und eine Kündigung von Verträgen einer strategischen Zusammenarbeit mit Russland.
Auch der Politologe Areg Kotschinjan findet sich in diesen Forderungen weitgehend wieder. Er geht sogar noch einen Schritt weiter. Wenn man keine Integration mit Russland mehr wolle, so Kotschinjan auf dem Portal civic.am, komme man um eine Einigung mit Aserbaidschan und der Türkei nicht herum.
In Aserbaidschan ist viel von einem armenisch-aserbaidschanischen Friedensvertrag die Rede, der noch in diesem Jahr unterzeichnet werden solle. Für den 5. Oktober ist eine Begegnung des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliew mit dem armenischem Premierminister Nikol Paschinjan auf der dritten Tagung der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Granada (Spanien), bei der die Führungsspitzen aus ganz Europa zusammenkommen, geplant.
Begeisterung löst diese Perspektive eines Friedensvertrages mit Aserbaidschan in Armenien nicht aus. „Der Appetit kommt beim Essen“ kommentiert der armenische Politologe Alexander Iskanderjan. International anerkannte Grenzen, und das zeigten die Beispiele von Syrien und der Ukraine, würden noch lange nicht garantieren, dass man nicht angegriffen werde. Iskanderjan befürchtet, dass Aserbaidschan mehr wolle als nur Karabach.
Streit um „Korridor“ Sangesur vorprogrammiert.
Aserbaidschan will einen „Korridor“ zwischen der Enklave Nachitschewan und dem aserbaidschanischen Mutterland. Über diesen „Korridor“ sollen Straßen und Züge Nachitschewan und damit auch die Türkei mit dem aserbaidschanischen Mutterland verbinden. Kontrolliert werden soll dieser „Korridor“ von Aserbaidschan. Zwar war in der Waffenstillstandserklärung vom 9. und 10. November 2020 Aserbaidschan tatsächlich eine von russischen Truppen gesicherte Landverbindung zugesagt worden. Von einem „Korridor“ war indes nicht die Rede. Und „Korridor“ bedeutet im Kontext des Südkaukasus eine extraterritoriale Landverbindung.
Auch der Iran dürfte von einem „Korridor“ direkt an seiner Grenze wenig begeistert sein. Zum einen ist die mit dem Iran verfeindete Türkei NATO-Land und somit Bündnispartner von Erzfeind USA. Zum anderen werden aktuell Güter von Nachitschewan ins aserbaidschanische Mutterland über den Iran transportiert. Mit einem „Korridor“ auf armenischem Gebiet würde der Iran eine wichtige Einnahmequelle verlieren.
Netzwerk Friedenskooperative
Network of the German Peace Movement
Ausgabe 6 / 2023
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